Das Tagebuch der Anne Frank und ihre Geschichte ist eine häufig verfilmter Stoff der Film- und Fernsehgeschichte. Bis heute sind weltweit 16 Filme und Fernsehserien gedreht worden, die Dokumentarfilme nicht mitgezählt. Der erste Film erschien 1958, der bisher letzte als aufwendig produzierte achtteilige US-TV-Miniserie 2023. Die Geschichte des jüdischen Mädchens, das ihre Erlebnisse in dem Versteck auf dem Dachboden eines Hinterhauses in der Amsterdamer Prinsengracht 263 während der deutschen Besetzung der Niederlande einem Tagebuch anvertraut, scheint die Filmemacher auch fast 80 Jahre nach ihrem Tod im KZ Bergen-Belsen immer noch zu faszinieren. Zu der Notgemeinschaft, die sich auf dem Dachboden jenes Hinterhauses zusammengefunden hatte, gehörte auch ein jüdischer Zahnarzt. Er war der Nachzügler, der zu den Familien Frank und van Pels als achte Person hinzustieß, für den sie zusammenrücken und ihre kargen Rationen mit ihm teilen mussten. In den meisten Filmen und Fernsehserien heißt er Dr. Albert Dussel, wobei der Familienname niederländisch Düssel ausgesprochen wird. In dem mit drei Oscars ausgezeichneten amerikanischen Film „The Diary of Anne Frank“ von George Stevens aus dem Jahr 1959, der auf dem gleichnamigen Theaterstück von Albert Hackett und Frances Goodrich basiert, sagt er von sich: „Das ist für mich eine Art Schock. Ich habe mich immer für einen Holländer gehalten. Ich bin in Holland geboren. Mein Vater ist in Holland geboren. Mein Großvater ist in Holland geboren.“ Diese Aussage wiederholt sich in den Verfilmungen von Alex Sagal aus dem Jahre 1967 (mit Lilli Palmer als Edith Frank, Anne Franks Mutter) und von Boris Sagal aus dem Jahr 1980. In späteren Verfilmungen erscheint dieser Satz nicht mehr, aber der Name des Zahnarztes bleibt bis zu den Verfilmungen der 2000er Jahre Dr. Dussel.
Wer in den Niederlanden nach einem Zahnarzt Dr. Dussel oder ähnlichen Namens suchte würde nicht fündig werden. Der jüdische Zahnarzt, der das Schicksal der Bewohner des Dachbodens im Hinterhaus der Prinsengracht 263 teilte, hieß weder Dussel, noch war er Niederländer. Sein wirklicher Name war Dr. Fritz Pfeffer. Er wurde 1889 in Gießen geboren und hatte in Berlin Zahnmedizin und möglicherweise zusätzlich auch Medizin studiert. Seine Approbation als Zahnarzt erhielt er 1911. Etwa ab 1922 hatte er eine zahnärztliche Praxis in der Passauer Straße 33 in Berlin-Schöneberg in der Nähe des berühmten Kaufhaus des Westens, dem KaDeWe. Die heutige Adresse lautet Lietzenburger Straße 20b, wo sich ein Stolperstein befindet. Die Praxis muss durchaus florierend gewesen sein. In der Gegend um das Luxuskaufhaus wohnte eine eher gut situierte Gesellschaft und in Schöneberg lebten bis 1933 auch viele Juden. Dr. Pfeffer war wohl ein sehr guter Zahnarzt gewesen sein, das sagte eine spätere Patientin aus Amsterdam, Miep Gies, die den Familien Frank, van Pels und auch Dr. Pfeffer dabei half, nach der deutschen Besetzung unterzutauchen. Sie blieb seine Patientin, obwohl er nach der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen wiederum nur Juden behandeln durfte. Dr. Pfeffer war alleinerziehender Vater. Sein Sohn Werner aus einer geschiedenen Ehe lebte bei ihm. Er gehörte später zu den Kindern, die nach Großbritannien ausreisen konnten und so der Vernichtung durch die Nationalsozialisten entgingen. Fritz Pfeffer hatte einen jüngeren Bruder, Ernst Pfeffer, Jahrgang 1892, der ebenfalls Zahnarzt geworden war und seine Praxis in Berlin-Tempelhof in der Friedrich-Wilhelm-Straße 12 hatte. Als ihm 1933 wegen seiner „nichtarischen Abstammung“ die Kassenzulassung entzogen worden war und seine Beschwerde, die er unter Hinweis auf seinen Einsatz als Sanitätsoffizier im Weltkrieg eingelegt hatte, zurückgewiesen worden war, emigrierte er nach Großbritannien. Ab 12.12.1935 war er im Britischen Zahnärzteverzeichnis registriert.
Fritz Pfeffer blieb einstweilen noch in Berlin. Erst nach der Reichsprogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 beschloss er Deutschland zu verlassen. Er ging in die Niederlande nach Amsterdam. Vorher gelang es ihm, den elfjährigen Werner im Dezember 1938 mit einem Kindertransport zu seinem Bruder Ernst nach England zu schicken. In Amsterdam errichtete er erneut eine Zahnarztpraxis auf der Amstellaan in Amsterdam-Süd. Er war zusammen mit seiner Verlobten Charlotte Karletta, einer Katholikin, die er wegen der nationalsozialistischen Rassengesetze nicht hatte heiraten können, regelmäßiger Gast bei den Samstagnachmittagstees der Familie Frank, wo er auch Miep Gies kennenlernte, die später seine Patientin wurde und ihm dabei half, unterzutauchen. Auch die Familie Frank gehörte zu seinen Patienten. Nach der deutschen Besetzung der Niederlande und dem dortigen Beginn der Judendeportationen tauchte er mit Hilfe von Miep Gies im November 1942 unter und fand bei den Familien Frank und van Pels auf dem Dachboden im Hinterhaus der Prinsengracht 263 Unterschlupf. Er teilte sich dort ein Zimmer mit Anne Frank. Das Zusammenleben mit ihr war nicht ganz konfliktfrei. Fritz Pfeiffer, ein Mann Anfang fünfzig, soll Anne mit seiner pedantischen Art auf die Nerven gegangen sein, während er gereizt auf ihre Sprunghaftigkeit reagierte. Da stießen wohl in der Beengtheit des Dachbodens zwei Welten auf einander, was dazu führte, das Fritz Pfeffer in der endgültigen Fassung des Tagebuchs der Anne Frank ziemlich schlecht wegkommt. Es gibt zwei Tagebücher, die Urfassung und dann eine 1944 entstandene Version, die Anne Frank nach dem Krieg unter dem Titel „Das Hinterhaus“ veröffentlichen wollte. In dieser Version verpasste Anne Frank Fritz Pfeffer den Spottnamen Dussel (im Sinne von Dummkopf) und fügte den Vornamen Albert hinzu. Wie aber wurde aus dem Deutschen Fritz Pfeffer ein Niederländer? Das müsste man wohl die Autoren des frühen Theaterstücks von Mitte der 1950er Jahre, Albert Hackett und Frances Goodrich, fragen, das für einige der späteren Verfilmungen zur Grundlage wurde. Hackett/Goodrich haben sich auch insofern viel Freiheit hinsichtlich der Person des Zahnarztes genommen als sie den Eindruck erwecken, als sei Fritz Pfeffer alias Albert Dussel als Fremder zu der Notgemeinschaft der Familien Frank und van Pels gestoßen. Dass Fritz Pfeffer mit der Familie Frank gut bekannt, wenn nicht gar befreundet war, war ihnen nicht bewusst, weil es zumindest in der Endfassung des Tagebuchs nicht erwähnt wird. Vielleicht haben sie auch aus dramaturgischen Gründen die Figur des Albert Dussel zu der gemacht, als der sie dann im Theaterstück und den auf ihm basierenden Filmen erscheint. Auch in optischer Hinsicht haben die Darsteller des Zahnarztes Albert Dussel meistens wenig Ähnlichkeit mit der historischen Person des Fritz Pfeffer. Miep Gies beschreibt Fritz Pfeffer als gut aussehenden charmanten Mann, der Ähnlichkeit mit Maurice Chevalier hat. Erst in den Verfilmungen der Geschichte der Anne Frank in den 2000er Jahren wurde versucht, der historischen Person des Dr. Fritz Pfeffer etwas mehr gerecht zu werden. Inzwischen waren Dokumente aus dem Nachlass von Charlotte Karletta aufgetaucht, die Fritz Pfeffer in einem anderen Licht erscheinen lassen. In den späteren Filmen wird Albert Dussel wird wieder zu Fritz Pfeffer und er ist auch nicht mehr der kleine alte etwas traumatisierte Mann, den Hackett/Goodrich im Verein mit Filmregisseuren aus ihm gemacht haben. In dem Fernsehzweiteiler Anne Frank von 2001 des österreichischen Regisseurs Robert Dornhelm, einer amerikanisch-tschechischen Produktion, die nicht auf dem Tagebuch der Anne Frank, sondern auf der von Melissa Müller verfassten Biografie der Anne Frank von 1998 beruht, wird Fritz Pfeffer als solcher von dem deutschen Schauspieler Jan Niklas vkörpert, der die Rolle in dem Alter gespielt hat, in dem auch Fritz Pfeffer war. Auch die Verfilmung des Tagebuches der Anne Frank von Hans Steinbichler aus dem Jahr 2016, in der Arthur Klemmt den Dr. Fritz Pfeffer spielt, wird der Person von Fritz Pfeffer eher gerecht. Dass die Personen des Films eher der Realität als der Vorstellungskraft der Tagebuchschreiberin entsprechen, wird dem Film in einer Kritik der FAZ zum Vorwurf gemacht.
Man kann sich fragen, warum Zeitzeugen, die es besser hätten wissen sollen, einer verzerrten Darstellung der Person des Fritz Pfeffer in diversen Filmen nicht widersprochen haben. Otto Frank hatte als einziger der Notgemeinschaft vom Dachboden des Hinterhauses das KZ überlebt. Dann war da noch Miep Gies, die Fritz Pfeffer als den gekannt hatte, der er war und der ihr nicht unsympathisch war. Und schließlich Charlotte Karletta, die zweite Frau von Fritz Pfeffer (ihre Ehe war posthum anerkannt worden). Von ihr ist bekannt, dass sie über die eher negative Darstellung von Fritz Pfeffer im Tagebuch der Anne Frank so erbost war, dass sie den Kontakt zu Otto Frank nach dessen Rückkehr aus dem KZ Auschwitz abbrach. Bei Otto Frank und Miep Gies kann man wohl annehmen, dass eine Intervention aus Respekt vor der Darstellung im Tagebuch der Anne Frank unterblieb, die nicht angetastet werden sollte. Erst später hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sich bei dem Tagebuch nicht um ein Dokument der Zeitgeschichte handelt, in dem die Verhältnisse auf dem Dachboden des Hinterhauses in der Prinsengracht 263 präzise abgebildet wurden, sondern um ein literarisches Werk, in das die sehr subjektive Sicht der Autorin, eines Teenagers, eingeflossen war.
Dr. Fritz Pfeffer alias Dr. Albert Dussel starb am 20. Dezember 1944 im KZ Neuengamme bei Hamburg an der Ruhr. Er wurde 55 Jahre alt.
Autor: Ernst Jolitzmehr ... weniger